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Texte + Gedichte: 20. Jahrhundert (16.4.1964)

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Zwanzigstes Jahrhundert


20.Jahrhundert,
die Jugend sitzt zwischen den Stühlen
Sehnsucht und Realismus
klarsichtig und kalt
doch träumend manchmal.
Gesang kalkweißer Musik
und stumme Gebete
zu keinem Gott, doch
immerhin ein bitteres
dennoch
auf den Lippen des Herzens.



20.Jahrhundert
Begehren, Sinnlichkeit, Verlangen,
aus Bindungen an Eine
wächst Ruhe
den Rastlosen,
Vergessen ist nicht verlangt
doch kontinuierlich
Neuorientierung.
Keine dauerhaften Geschäfte –
Gefühle sind solche –
werden geduldet.
Windwechselhaft,
doch sinnlich erfüllend
spielen sie
auf Glücks und Lustschalmeien
Totentänze
den Romantikern.



20.Jahrhundert
Kleine Kinder kauen am geliebt werden
der reizenden Mütter
deren Geilheitsgeruch
jugendliche Liebhaber
ekstatisch verzückt
ihre Schenkel klatschend
auf sie stürzen lässt.
Orgien der allgemeinen Lust,
in Masse getan
wird das Nichts
von der Liebe vertuscht,
alte Maske, Tod und Leere
bricht manchmal nur
im gebrochenen Auge brunsterfüllter Weiber
zusammen
und manchmal,
nach erschöpfenden Orgasmen
sieht der gekühlt
gelabte Jüngling
die eiskalte, grinsende Wand
das Nichts!



20. Jahrhundert
mit Mühe besiegen wir
in Schnelligkeit,
Krankheit, Armut, Hunger
und die Welt beginnt
unter neuem Leben aufzublühen.
Wie eitrige Gesichtsektzeme
breiten sich die Menschen
flächig, ausbeutend über die alte
kugelrundgütige Erde.
Im Schoß zerplatzen die Bomben
und draußen streben
pfeilschnell und heulend
Raketen weg von ihr.
Glückliches Sein des Weltraumes
der diese Kleinheit
nicht spürt.
Erschütternd sind uns die Bilder
und Ahnungen der Planeten,
Systeme von Welten
vermuten wir draußen,
doch in unserer Brust
entstehen sie nicht.
Nur wir, die Eigenheit
spiegelt sich
auf der vom Brauchtum
glatt polierten Oberfläche
sorgsam verschlossener Seelenschränke.



20.Jahrhundert
In die Tiefe loten die Forscher
Meere zu Grunde
und Zeiten bis zum Beginnen
erfassend
oder erfassen wollend
streben sie aus sich
hinunter.
Und Worte werden zerpflückt,
gebannt, geglättet unter der Lupe
mit Sorge,
braungerunzelte Stirn
zergrübelt
vergangene Gedanken
sind gültiger
weil der denkende Mensch
die Widersprüche durch seinen Tod
zu lösen gewöhnt ist.
Unter der Panzerplatte
der Seele
verbirgt sich die Leere
hochmütigen stark sein wollens.
Der Mensch erleidet
liebend
den Masochismus des
eigenen Ichs
und vernünftig verneint er den Gott.



20.Jahrhundert
Grabmal meiner Kultur
Zeit ohne Zukunft
Krone der Vergangenheit
Und vielleicht
Leise Geburt des Neuen.
Bombengebürtiges Neues,
sprießend aus Asche
und Abfall
im Abstieg die Samen eines neuen,
fremden und
glückhaft jungen
Wissens.
Das Ahnen der Götter
erstirbt nach vielen Jahren
kritischen Seins,
doch beginnend
kann vieles erleuchtet sein.
In Euch sind Götter
und Gott über Euch.



Curd Michael Hockel
19.6.1964 (Entwürfe III)


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